Wieder einmal Schuld(ige) gesucht

Es ist wirklich zum K
Unsere hiesige Gesellschaft – das werden aufmerksame Beobachter*innen sicherlich zugeben – ist in den letzten 30 Jahren zunehmend rücksichtsloser, ungehemmter (in vielerlei Hinsicht), empathieloser, respektloser und gleichgültiger geworden. Diese Verrohung der Menschen schreitet immer weiter fort. Niemand könnte vorhersagen, ob diese Zustände in positiver Hinsicht reversibel sind oder nicht. Das Fortschreiten dieser menschlichen Verrohung betrifft arme Gesellschaftsschichten ebenso wie reiche; sie ist gleichwohl bei Gebildeten zu beobachten und bei weniger gut gebildeten Menschen. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem auf allen sozialen Ebenen.

Nun sind die Krawalle an Silvester/Neujahr 2022/23 in vielen Städten der Republik, besonders aber die abscheulichen Angriffe auf Feuerwehr, Sanitäter*innen und Polizei ein gefundenes Fressen für Spekulationen. Fachleute, Betroffene und Politiker*innen spekulieren ob des Warums und Wieso’s. Irgendjemand muss ja schließlich schuld an diesem Desaster sein.

Herausgepickt als Schuldige werden nun Menschen, die auf ein „Nicht-Deutschsein“ reduziert werden. „Integrationsunwillige“ und Staatsfeinde werden sie genannt. Diskutiert wird über bestimmte Männergruppen, toxische Männlichkeiten, die unsere Gesellschaft oder gar den Staat bedrohen. Rassismus flammt auf wohin ich blicke, Ablehnung und Hass manifestieren sich weiter. Teilweise werden vollkommen unsinnige Parallelen zu den sexualisierten Angriffen in der Silvesternacht 2015/16 gezogen und bestimmte Menschen als Schuldige herausgepickt und damit komplett sinnbefreit sexualisierte Gewalt mit Böllern gleichgesetzt.
Andere wiederum diskutieren die Integrationspolitik in Deutschland und verurteilen diese als allein Schuldige an den Gewalttaten. Insofern wären dann Politiker*innen die Schuldigen und nicht die gewaltbereiten Böllernden. Aber war diese rohe Gewalt zum Jahreswechsel wirklich die Schuld nur einer vage bestimmbaren Gruppe von Menschen und einer verfehlten Integrationspolitik oder liegt die Schuld vielleicht ganz allein an unserer eigenen verrohten Gesamtgesellschaft?

Was ist eigentlich Integration? Und was bedeutet eigentlich Migrationshintergrund?
Bei Letzterem muss ich darauf verweisen, dass die meisten Menschen in Deutschland in ihren Ahnenreihen irgendwann eine*n Verwandte*n aus nichtdeutschen Landen aufweisen; bedeutet: fast alle haben einen Migrationshintergrund, denn Deutschland ist schon seit prähistorischen Zeiten Einwanderungs- und Durchzugsland vieler Völker.
Und was versteht man unter Integration?
Das Bundesministerium des Inneren und für Heimat meint: „Ziel von Integration ist es, alle Menschen, die dauerhaft und rechtmäßig in unserem Land leben, in die Gesellschaft einzubeziehen.“ So wie der Begriff „Integration“ aber sehr oft angewandt wird, scheint es sich eher um „Assimilation“ (Angleichung / Anpassung) zu handeln, was natürlich etwas vollkommen anderes ist als Integration. Der Grad der Assimilation manifestiert sich an gewissen gesellschaftlich als Norm angesehenen Merkmalen. Diese können sein Kleidungsform, Sprache, Verhaltensmuster, Nahrungsgewohnheiten etc..
Das Einbeziehen eines Menschen in eine Gesellschaft (Integration) bedeutet aber nicht, diesen Menschen zu assimilieren und in seiner Lebensweise komplett mit den herrschenden Normen gleichzuschalten. Assimilation ist ein recht einseitiger Prozess. Integration hingegen ist ein mehrseitiger von gegenseitiger Toleranz geprägter Prozess.

Aber wie dem auch sei – wenn ich Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung als Zeichen mangelnder Integration in eine Gesellschaft verstehen soll, dann muss ich feststellen, dass ein relativ großer Teil jüngerer aber auch älterer Menschen – gleich welcher Herkunft bzw. auch „Ur-Deutsche“ (sofern es solche überhaupt gibt) – dann nicht mehr gesellschaftlich integriert sind.
Die Gewaltbereitschaft ganz allgemein in unserer Gesellschaft nimmt stetig zu: sei es auf dem Schulhof, in der Wohnung, unter Nachbarn, auf der Straße, im Straßenverkehr, am Arbeitsplatz, gegenüber Frauen, gegenüber Kindern, gegenüber Tieren. Gewalt ist oft gepaart mit Rücksichtslosigkeit, mangelnder Selbstkontrolle, mangelnder Empathie. Hierzu sollte man wissen, was unter dem Begriff „Gewalt“ verstanden wird. „Gewalt“ ist körperlicher und/oder seelischer Zwang gegenüber Menschen und Tieren.
Gewalt hat viele Gesichter, denn Gewalt beginnt nicht erst mit körperlichen Gewalteinwirkungen auf jemanden. Gewalt ist auch jemanden zu beschimpfen, bedrohen, belästigen oder jemanden zu kontrollieren. Gewalt ist jemanden in irgendeiner Weise zu schädigen: sei es in der persönlichen Freiheit einschränken durch psychisch-verbale Nötigung oder jemanden tot zu schlagen.

Gewaltbereitschaft ist ganz sicher kein typisches Merkmal von Menschen aus anderen Herkunftsländern. Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung sind erlernte Sozialverhalten, die verknüpft sind mit Rücksichtslosigkeit, Empathielosigkeit, Hemmungslosigkeit, Intoleranz und auch mit Egoismus und Gleichgültigkeit.
Auch Deutsche sind Gewalttäter*innen und zwar gar nicht zu knapp! Mein eigener Lebensweg und meine Erfahrung mit meinen Mitmenschen beweisen mir das nur zu deutlich.

Die Schuld an den Ausschreitungen an Silvester/Neujahr 2022/23 sind einzig und allein den Personen zuzuordnen, die die Gewalt ausübten. Es waren vor allem junge Menschen, die „es mal richtig krachen lassen“ wollten. Es sind Menschen, wie es sie überall gibt. Ich habe z. B. alljährlich an Halloween die Befürchtung, dass irgendetwas rund um mein Grundstück beschädigt werden könnte oder gar Schlimmeres. Ich wohne auf einem Dorf umgeben von Deutschen. Dennoch wurde ich in den letzten 50 Jahren gestalkt, von Einwohnern dieses Dorfes bedroht; ich wurde sexuell belästigt, beinahe vergewaltigt, genötigt und verleumdet. Die meisten Übergriffe ereigneten sich in den letzten zehn Jahren. Wenn eine Horde Jugendlicher nach einem Volksfest sturzbetrunken im Dorf randaliert – sind diese Menschen dann schlecht integriert? Sicher nicht. Deren Taten werden entschuldigend „Jugendsünden“ genannt oder ähnlich verharmlost.

Was uns inzwischen fehlt ist die sogenannte soziale Kontrolle in unserer Gesellschaft! Noch vor 40 Jahren war es Usus, wenn man einen unflätigen Menschen bei seinen Untaten ertappte, ihn zu ermahnen oder zu schimpfen. So etwas traut sich heute fast niemand mehr. Soziale Kontrolle wird inzwischen als Einmischung in die Privatsphäre und daher als sanktionsrechtfertigend angesehen. Darum ignorieren Menschen zunehmend Gewalttaten und empören sich erst, wenn sie sich in sicherer Entfernung wähnen, oder sie gaffen nur und befriedigen so ihre Sensationslust.

Wir alle sind die Schuldigen an solchen Vorfällen. Wir haben es seit Jahrzehnten zunehmend versäumt, Zivilcourage zu zeigen und ermutigen Gewalttätige durch unsere Ignoranz und Untätigkeit. Viele auch deutsche Bürger*innen in unserem Land sind zunehmend respektlos, rücksichtslos und gewaltbereit geworden. Der Egoismus der Mehrheit von uns ist geradezu überwältigend. Die Auswüchse unseres Verhaltens sind Gewaltexzesse und die wahren Schuldigen sind alle, die ganzjährig untätig bleiben und den Mund halten, wenn sie Unrecht sehen.

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