Die Baumruine und ihr schleimiger Bewohner

In meinem Garten stand vor vielen Jahren ein wunderschöner Kirschbaum. Er war riesig und überspannte mit seinen Ästen nach zwei Jahrzehnten fast den halben Garten. Zur Blütezeit war er wundervoll anzuschauen. Der Duft der Blüten und das Gesumme der Bienen und Hummeln erfüllten alljährlich ein bis zwei Wochen lang den Garten.
Leider esse ich kaum Süßkirschen und so erntete ich die Früchte im Sommer zwar, verschenkte aber fast alles. Der Baum trug bis zu vier Zentner Kirschen, und die Ernte wurde umso mühseliger, je höher und umfangreicher der Baum wuchs. Ich gab mir sehr viel Mühe, sein Wachstum zu behindern, schnitt ihm eine Hohlkrone, um das Höhenwachstum zu begrenzen, aber alles war vergebens. Die dicken Leitäste übernahmen bald die Aufgabe der Baumkrone und strebten alljährlich meterlang gen Himmel.
Meine kleine Gemüseparzelle litt unter dem Baumschatten zunehmend. Daher beschloss ich den Baum rigoros zu kürzen und sein Ableben in Kauf zunehmen. Vor rund zehn Jahren sägte ich schließlich alle Leitäste auf eine Höhe von zwei Meter ab. Den immer noch imposanten Rest des mächtigen Baums ließ ich stehen und wartete gespannt, welche Lebewesen sich nun des Baumes bemächtigen werden.

Zuerst kamen Schmetterlingporlinge, dann Moos und andere Baumpilze. Nach acht Jahren hatten sich Hohlräume im Stamm gebildet, in denen kleine Pfötchen trappelten, deren Inhaber sich im Inneren der Baumruine häuslich eingerichtet haben. Großkäfer wie Balkenschröter und Kleiner Eichenbock vermehrten sich prächtig.

Im März 2020 bemerkte ich eines Morgens einen kleinen weißgelblichen Fleck am Stamm der Baumruine. Zuerst dachte ich, es sei Vogelkot. Aber täglich wurde der Fleck größer und auffälliger. Also inspizierte ich den Fleck aus der Nähe und stellte fest, dass es irgendetwas anderes sein musste. Mir fiel spontan nur Hexenbutter (ein Schleimpilz) ein.
Im Internet verglich ich dann das Aussehen, konnte aber nicht endgültig sagen, ob es Hexenbutter war oder nicht. Ich musste warten, wie sich der Pilz veränderte. Er wuchs auf eine blubberig wirkende gelblich-weiße Masse von 20 cm im Durchmesser an, bildete dann ein feines Häutchen über seinem Körper, das sich nach ein paar Tagen silbriggrau verfärbte. Zuletzt platzte diese Haut und eine dunkelbraune Sporenmasse kam darunter zum Vorschein, die mit jedem Lufthauch mehr und mehr verweht wurde.
Endlich war es mir möglich, den neuen Gartenbewohner zu bestimmen: Ein Stäublings-Schleimpilz (Enteridium lycoperdon, Syn.: Reticularia lycoperdon) hat es sich im alten Kirschbaum gemütlich gemacht.

Schleimpilze sind weder Pflanze noch Tier: sie pflanzen sich wie Pilze durch Sporen fort, bewegen sich aber aktiv und jagen in morschem Holz andere Pilze. Enteridium lycoperdon findet man meist an aufrecht stehenden und innen bereits morschen, dicke Baumstämmen. Gefährdet ist die Art in Deutschland nicht. Dennoch ein interessantes Lebewesen, das Spaß macht, es zu beobachten.

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