Man weiß ja nie

Meine Mutter war eine gläubige Frau. Aberglaube war ihr ein Greul, weil es als unchristlich galt, an Dinge zu glauben, die außerhalb der christlichen Lehre standen.

Im Spätherbst, wenn der Ontario endlich reif war, wurde ich zum Apfelpflücken in den Garten geschickt. Zum Glück war es nur ein relativ kleiner Baum. Er trug aber außerordentlich gut, und so konnten wir alljährlich mindestens zwei Zentner Äpfel einlagern.

Wenn ich die Äpfel vom Baum pflückte, kam meine Mutter zu mir und ermahnte mich, dass ich doch bitte nicht dem Baum sämtlicher Früchte berauben solle. „Kind, alles abzuernten bringt Unglück“, meinte sie und fügte hinzu „das ist bei uns daheim eine alte Tradition“.
Ich fragte natürlich, warum wir nicht alle Äpfel vom Baum holen können. „Nun“, sagte sie, „zum einen möchten auch die Tiere noch etwas von der Ernte haben und dann sind da noch die Schwarzen Reiter“.
„Die Schwarzen Reiter?“ fragte ich neugierig. „Wer sind d i e denn?“
„Die Schwarzen Reiter sind das wilde Heer, angeführt von Odin, das in den Rauhnächten zwischen Weihnachten und Neujahr durch die Lande zieht. So ein Heer benötigt Wegzehrung. Daher lassen wir ein paar Äpfel hängen. Niemals darf man alle Früchte von einem Baum abernten! Sonst werden die Schwarzen Reiter wütend und schicken Unheil über Haus und Hof derer, die zu gierig sind und nur an sich selbst denken“, erläuterte meine Mutter.

Da war er nun, der verpönte Aberglaube:
Meine Mutter, die strenggläubige Christin, glaubte fest daran, dass die Tage „zwischen den Jahren“ eine besondere Zeit sind, in denen der Mensch Regeln zu befolgen hat, damit er vom mythischen Heer nicht bestraft werde.

Unsicher, ob mich nicht doch der Zorn der Reiter trifft, wenn ich alle Früchte eines Baumes für den menschlichen Verzehr ernte, lasse ich seitdem immer ein paar Früchte hängen – ob Kirsche, Pflaume, Birne oder Apfel.

Man weiß ja nie…!

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten